"Und Zeit habe ich nicht.", konnte man neulich als Kommentar unter einem Reviewteaser auf dem Facebook-Profil des TWILIGHT MAGAZINs lesen. Dabei hatte das bewertete Album eine Spielzeit von 35 min. Und dann nennt man Alben umgangssprachlich Longplayer. Euphemismus ick hör' Dir tapsen, wa?! "Wildfires" braucht als greifbares Exemplar den Platz zweier CD bzw. dreier LP. Und Zeit...
POLLY PAULUSMA ist die Tochter des Historikers (Schwerpunkt Mittelalter) Jonathan Riley-Smith. Sie wurde 1976 in der Grafschaft Cambridgeshire geboren. Ein bisschen Gossip: POLLY PAULUSMA und ihr Mann Mick lebten viele Jahre in einem von Londons schmalsten Häusern, dem Slim House in Battersea. Vor 15 Jahren siedelten sie nach Cambridge um. Akademische Weihen bekam sie mit einem PhD (Doctor of Philosophy; deutsch: Dr. phil.) über die britische Schriftstellerin Angela Carter (1940-1992). POLLY PAULUSMA tauchte nicht einfach so auf. Ihr erstes Album nahm sie 2004 auf, "Wildfires" wird offiziell als Album Nr. 6 beworben. Sie eröffnete in der Vergangenheit für MARIANNE FAITHFUL sowie COLDPLAY. Wenn sie nicht durch Komponieren, Schreiben oder Touren gebunden ist, lehrt sie sowohl an der Cambridge University Poesie und Songwriting als auch Songwriting am Institute of Contemporary Music Performance in London. Dort ist sie außerordentlicher Professor für Lied und Literatur.
Nun zum Album unter Rückgriff auf 'Zeit': "Wildfires" ist der absolute Gegenentwurf zur wahrgenommenen Gegenwart, in der Aufnahmespannen nach 30 sec ausgereizt zu sein scheinen. NIemand hat Geduld. Alles ist Echtzeit, alles erscheint gleichrangig. Artificial Intelligence soll dabei dann noch die intellektuelle Anstrengung am besten nur noch darauf reduzieren, dass man selbst kontrolliert, was AI lieferte. Ach, da kann man doch dann einen anderen KI-Algorithmus drüber laufen lassen. Und als Humoreske am Rande erhielt das Redaktionspostfach die Email eines leicht echauffierten Rezipienten unserer kostenlosen Dienstleistung, der eine KI als reviewschreibende Instanz bei einer Albumbewertung wähnte, weil er selbst mit den Abkürzungen E- und U-Musik überfordert war. E-Musik steht für ernste Musik, Synonym für klassische Musik, U-Musik für Unterhaltungsmusik, also in groben Kategorien Pop, Jazz, Rock, Metal, Schlager, Volksmusik, volkstümliche Musik, Techno, Rap/Hip-Hop, Reggae und alles links und rechts und dazwischen. Diese Kategorisierung ist umstritten und dem Anschein nach nur auf Deutschland und Österreich bezogen, weil man bei der kommerziellen Verwertung von E-Musik im Verteilungsplan der Verwertungsgesellschaften höhere Vergütungen ausweist. Dennoch kenne ich diese Bezeichnungen seit Ende der 1980er Jahre. Beim TWILIGHT MAGAZIN wird noch selbst formuliert. Vielleicht sollten wir für einen höheren Durchlauf und Reviewoutput auf AI/KI wechseln. Persönlich würde ich mich damit schwertun, denn Musik wirkt subjektiv und stimuliert Gefühle. Eine AI/KI greift nur auf bereits beschriebenes im Algorithmus zurück. Aber reagiert sie mit wahrer Empathie (oder Antipathie)?
"Wildfires" zieht den Stecker und wirkt massiv entschleunigend. Einmal rein durch die Instrumentierung inkl. Gesang: hier sehr brüchig und überwiegend heiser/zart klingender Stimmeinsatz, da ein bisschen Gitarre, dort ein gezupfter Kontrabass, da hinten Klavier oder Orgel und dazu ein sehr zurückhaltendes Schlagzeug. Das Ensemble aus Bass, Klavier, Schlagzeug hat hier und da einen jazzigen Klangcharakter. Stilistisch ist POLLY PAULUSMA im Folk/Singer-Songwriter Genre zu verorten. Und das ist die zweite Ursache der Entschleunigung: die einfachen Arrangements. Einfach nicht im Sinne von banal, sondern im Sinne von reduziert auf das Essentielle. Dazu passt, dass "Wildfires" innerhalb von fünf Tagen live in den The Chapel Studios, Kidwelly, Carmarthenshire (also in Wales) aufgenommen worden ist. In zwei anschließenden Sessions wurden ein paar kleine Overdubs (z. B. zusätzliche Gesangsspuren) vorgenommen.
Die beschriebene Entschleunigung wird ferner unterstützt durch ein jedem Lied vorangestellten Gedicht ('Prologue to...'). Diese Gedichte nahmen Polly und ihr Produzent Nathan (zugleich auch Schlagzeuger) in die Natur auf. Sie waren in Kirchen, Steinbrüchen, Höhlen, an Flussufern und bei heiligen Steinen. Diese Gedichte sind nicht Stimme pur, sondern mit Klanguntermalung. Teilweise ist der Vortrag POLLY PAULUSMAs ein zweites Mal zeitversetzt zu hören. Das wirkt mitunter sehr geheimnisvoll.
Komponiert hat sie die Lieder für "Wildfires" zwischen Oktober 2022 und Mai 2023. Ihre eigene Auffassung vom Material war, dass es klang, wie im Feuer geschmiedet. Diese Beschreibung wirkt natürlich unpassend für den Stil, aber wird verständlich, weil POLLY PAULUSMA diese Lieder wie eine Selbsttherapie schrieb und damit eine emotionale Landkarte kürzlich erfahrener schwerzhafter Ereignisse zeichnete. Sie sagt: "Written in my own blood as Joni [Mitchell; kanadische Musikerin, Komponistin und Malerin; eines von POLLY PAULUSMAs Vorbildern] would have it." Es sei schmerzhaft gewesen, jedoch ein guter Schmerz - wie wenn man einen Splitter aus dem Weichgewebe zieht. Es habe ihr Leben gerettet.
Sie schob ihrem Produzenten einen ganzen Sack voll Songs zu in der Erwartung, dass die Menge auf maximal 12 Lieder eingedampft wird. Aber Pustekuchen. Sie empfindet große Dankbarkeit für die Empathie ihres Produzenten, eben nichts gestrichen zu haben, sondern lediglich die Lieder in eine Ordnung gebracht zu haben. Wenn der Komponist so emotional mit seinem Werk verbunden ist, ist dieser Vertrauensbeweis mit Sicherheit unbeschreiblich. Zudem geht es POLLY PAULUSMA um nichts anderes als Liebe. Liebe, die man als Kind empfindet, Liebe, die man Mitmenschen durch Musik zukommen lässt, Liebe in Teenagerzeiten, die mitunter nicht die bedachte Person erreicht, Liebe zu verlorenen Kindern, liebevolle Erinnerung an Tote, romantische Liebe, das innere heiße Feuer, die wohlige Wärme langer Beziehungen, Liebe und Sehnsucht nach göttlicher Präsenz, Liebe über den Tod und die irdische Exitenz hinaus.
Es geht um nichts anderes als das ganz große Gefühl.
Ich greife das Stichwort Zeit noch einmal auf und streue virtuell Asche über mein Haupt. Den ersten Durchlauf führte ich nämlich am kompletten Album durch, also mit den Gedichten. Aber dann zerschnitt ich das Werk vorsätzlich, um zeiteffizienter nur den Liedern meine Aufmerksamkeit zu schenken. Ich extrahierte also die Gedichte und hörte mir nur die Musikstücke an. Im Nachhinein beim Schreiben des Reviews und mit den Dingen im Hinterkopf, die zum Album und seiner Entstehung begleitetend kommuniziert wurden, entwickelte sich Gewissensbiss Nr. 1. Ich habe das musikalische Bild von Künstler und Produzent verfremdet, um es einfacher zu haben. Der nachträgliche Gewissensbiss Nr. 2 entstand, weil ich die Musik auf Zufallswiedergabe in den folgenden Durchläufen anhörte. Das funktioniert wohl. Und hat nicht POLLY PAULUSMA ihre Stücke völlig ungeordnet chaotisch übergeben wie es ihr in den Sinn kam? Das finale Werk hat jedoch eine Reihenfolge.
Somit die eigene Reflektion: Zerreißt man die Intention des Künstlers, wenn man Bestandteile ignoriert und Reihenfolgen missachtet? Ändert man nicht gewünschte Spannungsbögen über den ganzen Verlauf des Albums?
Vielleicht ist es ja auch gar nicht so schlimm - ist es eh nicht, weil es keine Entscheidung um Leben oder Tod ist -, dennoch werde ich "Wildfires" zukünftig vollständig und der vorgegebenen Reihenfolge nach konsumieren.
In der Albumkritik HEATHER NOVAs hatte ich auf POLLY PAULUSMA verwiesen. Beide Album wurden grob in der gleichen südwestlichen Region auf der Insel aufgenommen. Dennoch wirkte HEATHER NOVAs Album sonniger. POLLY PAULUSMA ist eher leise melancholisch, irgendwie auch ein bisschen ernst. Und wenn es fröhlich wirkt, dann ist es irgendwie zurückhaltende Freude. Richtige Euphorie würde ich gesanglich an voller Bruststimme festmachen. So singt POLLY PAULUSMA jedoch nicht.
Die Klangarrangements bei den Gedichten und auch das Lied You Are Everything, auf der zweiten, Embers genannten, Hälfte des Albums, erinnern an Kompositionen von NEUFELD/PARRY/FOON auf deren Debüt "First Sounds".Aber es ist kein Kopieren, weil nicht nur POLLY PAULUSMAs Stimme einen Unterschied macht.
Unter Missachtung von Reihenfolgen könnte man POLLY PAULUSMA und NEUFELD/PARRY/FOON in einer gemeinsamen Playlist laufen lassen.
"Wildfires" ist wirklich ein besonderes Album: Zeit, Natürlichkeit, Bescheidenheit/Einfachheit, Wahrhaftigkeit. Alles hat seine Zeit. Und seine Ordnung. Und zu "Wildfires" gehören daher auch die Prologe vor jedem Lied und die vorgegebene Liedfolge. Also: Sich ganz bewusst Zeit nehmen und sich auf den Weg begeben, den POLLY PAULUSMA auf dieser emotionalen Landkarte einzeichnete.