Mein erster Gedanke war: 'Ein Doppel-Album, dessen Titeltrack die gesamte zweite Disc einnimmt? Man kann's auch übertreiben'. Auch die Länge der Songs, die zwischen knapp sieben und 42 Minuten schwankt, erschien selbst mir, der ich Anhänger von "A Change of Seasons" und Edge Of Sanitys "Crimson" bin, etwas suspekt. Doch jeder der sechs Titel besitzt einen eigenen Charakter, auch wenn sich dieser dem Hörer erst nach mehreren Durchläufen offenbart. Der Opener "The Glass Prison" ist ein harter, vielleicht sogar der härteste Song des Albums. Doch trotz seiner geradeausrockenden Art bringt er es auf fast 14 Minuten, die er jedoch nicht immer mit abwechslungsreichen Riffs zu füllen weiß. "Blind Faith" ist ruhiger und kann mit vielen guten Gesangslinien aufwarten. In diese Kerbe schlägt auch "Misunderstood". Der vierte Song, "The Great Debate", sollte ursprünglich "Conflict At Ground Zero" heißen, doch nachdem der Begriff "Ground Zero" nach dem 11. September eine negative Konnotation erhalten hatte, änderte man den Titel flugs. Thematisch passend ist der abwechslungsreiche Viertelstunden-Song mit zahlreichen Samples aus der US-Medienwelt gespickt. Glücklicherweise werden die ziemlich radikal klingenden Statements des Herrn Petrucci zum Thema US-Vergeltungsschlag, die er unlängst aus der Lippe fallen ließ, durch den Text des Songs relativiert: "Are you justified in taking life to save life?". Dennoch bleibt ein bitterer Nachgeschmack, denn ich verstehe Dream Theater nun mal nicht als politische Band. Mit "Disappear" bewegt sich das Quintett sogar in Ayreon-Gefilden, klingt das Keyboard doch wie eine Fortführung der "Into The Electric Castle"-Instrumentierung. Ein schönes, ruhiges Lied und ein gelungener Ausklang der ersten Disc. Den Titeltrack "Six Degrees Of Inner Turbulence" könnte man als Album im Album bezeichnen. In acht Unter-Tracks eingeteilt, stellt er mit einer knappen Dreiviertelstunde den längsten Dream Theater - Song aller Zeiten dar. Zu Beginn musste ich ob des hohen Keyboard-Kitsch-Faktors etwas die Nase rümpfen, doch nach einiger Zeit weicht die dur-lastige Tralala-Atmosphäre einer nachdenklichen bis resignativen Stimmung, deren relativ konventionelle musikalische Umsetzung im späteren Verlauf in eine bedrohliche Alternanz zwischen dissonanten Soundcollagen und harmonischen Gitarren- und Keyboard-Leads übergeht. Die Schilderung zweier Personen, die durch den Druck ihrer Umwelt in Drogensucht und Einsamkeit getrieben werden, entfaltet sich musikalisch langsam und schleichend. Besonders hervorzuheben ist der zwar poppige, aber mit einem hervorragenden Refrain versehene Track "Solitary Shell". Fazit: "Six Degrees Of Inner Turbulence" reicht nicht an "Metropolis Pt. 2" oder "Awake" heran, wobei man es mit den ganz alten Werken der Band kaum noch vergleichen kann, da Keyboarder Jordan Rudess die Band in eine völlig andere Richtung gelenkt hat als anfangs Kevin Moore oder zwischenzeitlich Derek Sherinian. Ich vermisse die überschäumende Verspieltheit, die "Metropolis Pt. 2" zu durchströmen schien, und die Verwendung von Leitmotiven auf der ersten CD. Ich denke jedoch, das dieses Album mit jedem Hördurchgang wachsen wird, so wie es damals bei "Metropolis Pt. 2" der Fall war. Daher gibt es hoffnungsvolle 13 Punkte.