Musikalisch ist eigentlich fast alles beim Alten geblieben, gekonntes, abwechslungsreiches Songwriting, halsbrecherische progressive Instrumentalpassagen treffen auf die zu Herzen gehenden Melodien, ruhige akustische Teile treffen auf laute, harte Riffs, Gitarre trifft Synthie, Mellotron und Schweineorgel, Dramatik und Epik geben sich die Hand. Wieder mal ein mitreißender Film, der sich im Kopf abspielt, lauscht man der CD. Nun zu den Musikern. Neal ist zwar wieder fast für alles selbst zuständig, trotzdem bildet sich da anscheinend mit Randy George (Bass, auch schon beim letztjährigen „One“-Opus dabei) und Mike Portnoy (Drums, schon seit Neals erstem Post-Spock’s Beard-Alleingang „Testimony“ dabei – eigentlich Trommeloktopus bei Dream Theater) so was wie ein festes Bandgefüge heraus. Im Gegensatz zu „One“, wo neben den besagten Mitstreitern nur noch einige Streicher zu hören waren, arbeitete Neal Morse diesmal wieder mit diversen Gastmusikern. So erklingen auf „?“ neben Cello und Violine auch Hörner, Dudelsäcke, Backing Vocals und Saxophon. Insgesamt tragen sechs Musikerinnen und Musiker zum Gesamtsound des Albums bei. Der eigentliche Clou aber sind allerlei „Special guests“, die sich der Ausnahmemusiker an Bord holte: Dream Theaters Tastenmann Jordan Rudess zum Beispiel, Saxophon-Magier Mark Leniger, der schon an „Testimony“ mitwirkte, „?“ klanglich jedoch deutlich stärker mitbestimmt, sowie gleich drei Gitarristen: Steve Hackett (Ex-Genesis), Alan Morse (Neals Bruder, Gitarrist bei Spock’s Beard) und Roine Stolt (The Flower Kings). Klar, dass trotzdem der typische Morse-Sound herauskommt. Ach ja, ganzverzwickte Vocal Arrangements, die an die seligen Gentle Giant erinnern, sind diesmal nicht dabei. überhaupt lässt sich „?“ auch prima nebenbei hören, da sich der Musik sehr gut folgen lässt. Inhaltlich geht es um die Mysterien Gottes, aber ehrlich gesagt, habe ich mit den Texten nicht sehr beschäftigt. Dieses ganze Gefrömmele geht mir mit der Zeit doch ein bisschen auf den Senkel. Als ob es kein reales Leben neben der Religiösität gäbe. Na ja, bei diesem ganzen Satanistenkram in der Metalszene kriege ich mittlerweile auch die Krise. Nur soviel: die Texte schmälern den Gesamteindruck nur marginal. Zum wiedergeborenen Christen bin ich nicht mutiert, trotz intensivem Anhören aller Alben von Neal Morse. Klar ist es nicht unbedingt „cool“ so was zu hören, aber was heißt das schon?! In erster Linie geht es um die sehr emotionale Musik. Und die ist einmalig gut. Es ist schwierig zu sagen, ob „?“ besser oder schlechter ist als „One“ oder „Testimony“, es ist halt typisch Neal Morse. Dieser ist ein Künstler, der seinen eigenen Stil schon lange gefunden hat, es aber immer wieder versteht, hervorragende Alben herauszubringen, auf die man sich schon vor Veröffentlichung freut, sich die Scheibe besorgt und diese einen eine Zeit lang durch den Alltag begleitet. Sollte sich Neal eines Tages zur Ruhe setzen, kann er auf eine lange Liste mit Klassikern zurückblicken. „?“ ist einer von ihnen.