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Ich habe das Album bestimmt 15x in den letzten Stunden angehört, immer die Songs der Reihe nach. Während ich nun darüber sitze das Review zu schreiben, habe ich mich auf eine Notengebung noch nicht festgelegt. In der Tendenz bin ich aber auf der Seite weiß/Liebe. 

Ein Sprung ins Jahr 1995. An einer Hildesheimer Schule wollte man für die Schülerzeitung eine Spalte mit Plattenkritiken etablieren. Es wurden Label herausgesucht, angeschrieben, es gab Antworten mit Promomaterial. Motor Musik schickte ein paar Pressebilder und eine CD mit athletischen, oberkörperfreien Männern (Okay, Flake und athletisch... Er ist physisch der Lauch - oder einfach ein Asket.). RAMMSTEIN mit Herzeleid. Durchhören: BÄH! Was ist das denn? Haben die BÖHSEN ONKELZ den Punk/Hardrock verlassen und den Metal entdeckt sowie sich im teutonischen Wörterbuch alle Einträge markiert mit einem r drin? Im Freudeskreis gab es auch keinen Anklang für das Oeuvre. Es gab da im Landkreis eine "Edeldisko" namens Peppers in einem Ort namens Harsum. Auch die SCORPIONS traten in dem Ort auf. Samstags bis 2200 war Metaldisko und danach leutete MELISSA ETHERIDGE die Rock-/Popdisko ein. Und irgendwann wagte es der DJ mit Songs vom Album Herzeleid den Tanzboden zum Beben zu bringen. Ab da war die CD nachgefragt. 

Mir gefiel dieses Einzigartige. Ab dem Album Plastik bevorzugte ich ein µ mehr OOMPH! als RAMMSTEIN. Nach Herzeleid folgten alle Studioalben plus Live aus Berlin sowie Völkerball dem Weg in den CD-Schrank. Unstrittig sind die Lyriks so, als habe man einfach dem Motto des Reimemonsters gefrönt: Reim' Dich, oder ich fress' Dich. Und es sind oft ja nicht assoziative Formulierungen, sondern affirmative. Also richtig bildmalerisch. Ergänzt wird das durch die Inszenierung in Videos und auf der Bühne. 

Das letzte unbetitelte Studioalbum veranlasste anlässlich des Musikclips zur Auskopplung Deutschland meinen ehemaligen Geschichtsprofessor Prof. emerit. Dr. Wolffsohn zu erheblicher Kritik.

Faschismus- und Nationalismusvorwürfe sind hinreichend abgeklärt. Die Frage, was Kunst darf, scheidet seltsamerweise bei RAMMSTEIN die Geister. Was ist mit seichtem Popschlager (und Titeln, die chiffriert das Beiwohnen besingen) oder z. B. Texten von CANNIBAL CORPSE? "Lyrisches Ich" ungleich das (auto-)biographische Ich. Bret Easton Ellis' American Psycho sorgte seinerzeit auch in der Literaturszene für die Frage nach psychischer Degeneration, ob der beschriebenen Bilder. Und auch ertappe mich selbstverständlich bei RAMMSTEIN im Duktus eines Marcel Reich-Ranicki: "Was will uns der Autor damit sagen? Was hat ihn inspiriert?" Vielleicht gibt es eine Checkliste: Skandalträchtig? Sexistisch? Chance für Fehlinterpretationen? Einfaches Reimschema? ...

Vorab sorgte der bildgewaltige Musikclip zur ersten Single Zeit für Vorfreude auf das bevorstehende Album. So dreht es sich bei diesem Lied um die unaufhaltsame Vergänglichkeit (Zeit). Die Eröffnung des Albums beschreibt die stumpfe Massenmobilisation einfacher Pflänzchen (Armee der Tristen), es finden sich u. a. Lieder über die chirurgisch begleitete Körperoptimierung (Zick Zack; persönlich finde ich das Thema Geschlechtsangleichung in dem Tenor des Liedes deplaziert), über die Folgen der Fremd- und Selbsttäuschung (Lügen; wobei das Lyrische Ich noch in der Lage zur Reflektion ist), das Motiv der Angst vor dem Fremden (Angst), dann häusliche Gewalt inkl. Missbrauch, Gefühlskälte und geforderter Rollendisziplin (Meine Tränen), das Loslassen infolge des Versterbens eines nahestehenden Menschen (Adieu). Und dann ist da noch die Reduzierung auf deutlich wahrnehmbare weibliche sekundäre Geschlechtsmerkmale im Zuge der Definition relevanter Faktoren bei dem Wunsch, die Einsamkeit durch Partnersuche zu überwinden und das garniert durch einleitende "Blasmusi" bzw. ein Sample von Lebt denn der alte Holzmichl noch. Auch ein typisches RAMMSTEIN Arrangement ist OK. Dies steht für ohne Kondom. Quasi wie in Kontaktanzeigen über das Angebot oder die Suche haushaltsnaher Dienstleistungen gegen Entgelt (oder auch Naturalien). Das chorale Intro eines Frauenchors wirkt eh schon stark kontrastierend in Bezug auf die anschließende typische RAMMSTEIN Walze. Bei den Wiederholungen des Liedes in den Durchläufen während meines Konsums vernahm ich dann, dass die Frauen sogar "ohne Kondom" singen. Beim ersten Hören hatte ich nur die Harmonien erfasst.  

RAMMSTEIN gefallen mir besonders, wenn sie musikalisch nicht im up-tempo Bereich agieren. Und solche Songs überwiegen auf Zeit. Alles in allem muss ich feststellen, dass die Songauswahl und Reihenfolge bruchfrei ist. Ich erwische mich auch nicht bei Gedanken, die mir sagen: Das haben sie doch schon mal gebracht. Bei den Songs auf Zeit ist Zick Zack zwar mein Streichkandidat, aber die Fills Flakes setzen humorvolle Akzente.
Der Bandsound ist frei von negativer Kritik: Top Breitwandklang. Somit komme ich zur Entscheidung, dass Zeit zwar nicht überragend und überraschend ist, aber mich dennoch sehr gut unterhält. 

RAMMSTEIN mobilisieren sicher keine neue Gefolgschaft, aber sie werden auch keine verlieren.   

Nachwort am 30.04.2022 nach VÖ des Reviews am 29.04.2022 (Begründung: Das Bemusterungsmaterial umfasste nur Musik, kein Booklet, keine Bekleitschreiben): Ich hatte mir das Album ordentlich bestellt und es heute in der Post erhalten. Dem Booklet entnehmen kann man noch einige Dinge, die vorab bekannt waren, z. B. BRYAN ADAMS als Photograph, oder eher weniger: Dass bei Meine Tränen eine analoge Klarinette, gespielt durch Wolfram Große, sowie Oboe, gespielt durch Bernd Schober, zum Einsatz kamen, dass bei den Liedern Armee der Tristen, Zeit, Lügen und Adieu der "Konzertchor Dresden" unter der Leitung von Friedemann Schulz mitwirkte. Bei OK erwähnte ich ja einen Frauenchor. Dieser kommt aus Weißrussland. Es handelt sich um den "The academic Choir of the national Television and Radio Company of Belarus" in Minsk. Dirigent war Wilhelm Keitel. Nein, es ist kein übler Scherz der Band. Ein Sohn "Lakeitels", des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitels ist er nicht. Der Generalfeldmarschall Keitel wurde 1946 hingerichtet, der spätere Dirigent im Jahr 1951 in Schwäbisch Hall geboren. Keitel ist - geht man kursorisch durch seine Biographie - eine Instanz in der Klassikszene. Belarus ist aufgrund der politischen Führung mehr als umstritten. Aber die Sprache Musik zeigt immerwieder wie jegliche Grenzen friedlich überschritten und Kooperationen beschritten werden können.   

Kategorie

V.Ö.

29. April 2022

Label

Universal

Spielzeit

44:15 min

Tracklist

01 Armee der Tristen
02 Zeit
03 Schwarz
04 Giftig
05 Zick Zack
06 OK
07 Meine Tränen 
08 Angst
09 Dicke Titten
10 Lügen
11 Adieu

Line Up

Till Lindemann - Gesang
Richard Kruspe - Gitarre
Paul Landers - Gitarre
Oliver Riedel - Bass
Christoph Schneider - Schlagzeug
Christian Lorenz - Keyboards

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