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Das kanadische Trio aus Endvierzigern kennt sich musikalisch mindestens seit 25 Jahren. In dieser Konstellation haben sie bislang noch nichts veröffentlicht, so dass "First Sounds" ihr Debüt ist. Um das Ende vorweg zu nehmen: Für mich ist es bislang das beste Album, was ich 2024 hören durfte. 

Dieses Mal war nicht die bekannte rhetorische Frage eines Kollegen reviewbegründend, sondern schlicht die direkte Anschrift durch zwei Vertreter von V2 Promotion mit den Initialen JP und MO, die mir seit einiger Zeit auch persönlich - neben dem Twilight Magazin Posteingang - Neuankündigungen zukommen lassen - ohne dass daraus ein Review erfolgen muss. 
Zwar heißt das Trio weder tiefblaues Kupftertetraminkomplexkation noch hydroxylendgruppenterminiertes Polybutadien, dennoch ist mir der Name zu lang. Daher verwende ich im weiteren Verlauf des Reviews das Akronym NPF.
Die VÖ Ankündigung von NPF nebst Bemusterungsmaterial wanderte als irgendwann in meine InBox. Wie gewöhnlich klickte ich willkürlich auf einen Song zum Probehören. In diesem Fall war ich sofort fasziniert und hatte die Entscheidung zum Review getroffen. Folgeschritt: Information an Redaktionsleitung, um Reviewdurchführungskonkurrenz zu vermeiden. 

Als Stil würde ich aufgrund der Instrumentierung und der Arrangements den Begriff Neo-Klassik verwenden. Ambient erscheint mir nicht zutreffend zu sein, weil es keine elektronische Musik ist. Die musikalische Wirkung ist meditativ. 

Klassik? Muss das sein?! Lohnt sich das? 
Exkurs in die eigene Biographie: Die längste Zeit auf einer Schule - neben der Schule des Lebens - verbrachte ich auf einer Lehranstalt, die (u. a.) berühmte Musikschaffende hervorbrachte: Der Komponist Phillip Georg Telemann, nach dem ein großer Saal an der Schule benannt wurde, die Pianistin Ragna Schirmer und der mehrfache Grammy Gewinner und Bariton Thomas Quasthoff. Es riecht massiv nach sog. E-Musik. Darf E-Musik nicht unterhalten. Die Bezeihnung U-Musik suggiert immer Diskriminierung. Ih, Unterhaltung, das riecht nach Schweiß. 
Ich war zumindest durch Klavierunterricht ab dem siebten Lebensjahr vor dem Wechsel auf diese humanistische Bildungsvermittlungseinrichtung in die richtige Richtung abgebogen. Bis mich zu Beginn der Pubertät die E-Gitarre auf die dunkle Seite (Saite?) der Musik zog und introvertiertes oder exaltierters Revoluzertum geplegt wurde. Oh, hätte ich statt Musik, besser Kunst in Zwischen- und Oberstufe weitergeführt. Warum hat der Komponist das so komponiert, die Synkope dort gesetzt, hier einen Kontrapunkt gemacht, da einen Tempowechsel eingeführt, hier Pianoforte, dort Crescendo notiert? - Ähm, weil er damit sein Geld verdient, er es kann, es für ihn gut klang, er nicht dafür kritisiert wurde. Das ist mir rille und vor allen Dingen reine Interpretation oder noch schlimmer Spekulation, solange man keine verbriefte Aussage des Autors zu seiner Intention hat. Ich brach also mit Klassik und "Blattspielern" - denn ich bin Freigeist. 
Das ist natürlich auch ironisch übertreibend, aber im Kern führte das zumindest dazu, dass mir Klassik 'am Tokus malochen' konnte - zumindest in der Schule. Auch wenn privat Metal immer mehr in den Vordergrund kam, entdeckte ich mit 17 im Musikschrank meiner Eltern eine Kassette mit Barockmusik. Zu irgendeinem Anlass einige Jahre früher hatte ich Tolkiens "Der kleine Hobbit" geschenkt bekommen, das Buch, weil mich Fantasy nicht reizte, nicht angerührt. Mit 17 packte ich es aus, und dabei hörte ich über ein mobiles Abspielgerät mit Kopfhörern namens Walkman während des Lesens. Und bis heute mag ich Corelli, Torelli, Albinoni, Pachelbel, Manfredini usw. Mehr als ein Jahrzehnt später - die Kassette war durch - fand ich die Musik auf CD. Nun ist sie als *.mp3 konvertiert. Die Studienzeit in München mit einem Abo der Süddeutschen Zeitung lies mich deren Zusammenstellungen "Klavier-Kaiser" und "Jahrhundert-Geiger" erwerben. Bei mir findet man auf Vinyl "Das wohltemperierte Klavier" von Bach, eine Vinyl-Sonderpressung von  Anne-Sophie Mutter an der Violine. Kürzlich kaufte ich mir ein Album der Cellistin Raphaela Gromes. Ich höre nicht wirklich regelmäßig Klassik, aber ab und an schon. 
Allerdings muss ich mich zeitlebens als Kulturbanause bezeichnen lassen. Während des Studiums hatte mir jemand zwei Karten für "Faust" im Münchner Nationaltheater/in der Bayerischen Staatsoper geschenkt, mit niemand geringerem in der Hauptrolle als Rolando Villazón. Und was machte Jacques Bubu in feinen Zwirn gewandet? Er schließ ein, schnarchte seelig und verpasste Akt um Akt und zog scheinbar die finsteren Blicke der kulturliebenden Bourgeoisie und Münchner Schickeria auf sich. Davon habe ich schlafend nichts gemerkt, denn ich war wohl einfach nur platt vom Studieren unter fürstlichen Bedingungen eines Stipendiums der 'Deutschen Steuerzahlerstiftung'. Die gibt es natürlich nicht. Ein Universitätsstudium war Bestandteil meines gewählten Berufs. Ich lebte nicht im Maximillaneum wie richtige Stipendiaten, die mit 500 EUR gefördert wurden. Ich erhielt monatlich meine ungekürzten Gehaltsbezüge, brauchte also nicht jobben, musste aber alles in Trimestern absolvieren. Kurze Vorlagezeiten für Studienarbeiten kamen auch dazu, bei gleichem Umfang wie bei Semestercurricula. Ich war also wirklich platt und mich schläferten Musik und Gesang ein. Meine Frau hält mir das bis heute vor. Ich bemühe mich durch Toleranz gegenüber E-Musik diese Schmach zu kompensieren. 

Das bedeutet aber nicht blinde Toleranz. Bei aller technischer Raffinesse und allem Talent: David Garrett ermüdet mich. Das ist mir zu grell. Sowohl, wenn er E-Musik dem Mainstream vorsetzt oder vice versa U-Musik dem behaupteten Bildungsbürgertum als hörenswert präsentiert. Er ist dabei zu dominant. Es ist dann wie Instrumentalmusik, die sich nur darum dreht, dem Solisten eine Bühne zu bieten. Gitarristen opfern sich dafür ja gerne. Exkurs Ende. 
 
Kommen wir nun zu NPF. Wohltuend hebt sich ihr Werk ab vom anderen Kanadier DEVIN TOWNSEND und, wenn man eine geringe Charteignung/ein Special Interest Genre antizipiert, vom anderen außergewöhlichen Art-Pop Künstler TIM BOWNESS. 
Das, was die drei abliefern, ist angenehm zurückhaltend/minimalistisch. Dabei ist es sehr ausdrucksstark mit unaufdringlicher Dynamik. Vor allen Dingen hört es sich an wie ein gemeinsames Werk der beteiligten Musiker in ihrer wortlosen Sprache.
Das ist im instrumentalen Kontext und einem anderen Genre vergleichbar mit LONG DISTANCE CALLING.
Violine und Cello sind als Streicher komplementär. Trotzdem sie Soloinstrumente sind und nicht innerhalb eines Orchestersounds weicher im Klang werden, treten sie nicht aufdringlich auf. Auch wirken NPF so, als würden sie nicht exaltiert-rustikal musizieren, wie der Vortrag von APOCALYPTIKA gemeinhin ist, sondern zurückhaltend. 
 
Augen schließen, vorher eine angenehme und für eine lange Verweildauer geeignete Haltung eingenommen habend, und dann einfach nur die Kompositionen auf sich wirken lassen und dabei Durchlauf für Durchlauf immer mehr in den vielschichtigen Arrangements entdecken.
Die  Vielschichtigkeit sehe ich hier eben nicht wie bei DEVIN TOWNSEND als Dichtheit, Komprimierung und Ausdruck von Übermaß, sondern als durchlässige Schichten - ähnlich wie im Yoga mit Kosha-Modell, dass z. B. durch die acht Stufen des Raja-Yoga, durchlässig gemacht wird bis auf den innewohnenden Kern des Wesens - und Balance. Alles gehört zusammen.
"First Sounds" ist dabei jedoch nicht nur Harmonie, sondern hat auch Dissonanzen - trotzdem hinterlässt jedes Lied einen angenehmen Nachklang. Ich habe mir das Album bewusst, um Präjudikation zu vermeiden, ohne Titelkenntnis angehört - chronologisch wie auch zufällig. 
Sicherlich kann man die einzelnen Songtitel als Ausgangspunkt einer Meditation verwenden. Wirkmächtig ist es auch ohne. Einen Titel habe ich mir dann doch raussuchen müssen, nämlich Maria. Die nach etwa einer Minute einsetzenden Gitarrentöne strahlen eine Nähe zu den Songs, die DOMINIC MILLER (sicherlich bekannt als langjähriger musikalischer Partner von STING) auf seinen beiden letzten (instrumentalen) Soloalben "Vagabond" und "Ad Hoc" veröffentlichte aus. Insofern ist es was für den Nachgang, eine Playlist anzulegen mit dem Album NPF und den beiden vorbezeichneten DOMINIC MILLER Platten. 

"First Sounds" ist ganz große Kunst, die es lohnt anzuhören. 


Kategorie

V.Ö.

01. November 2024

Label

One Little Independent/Envision Records/Bertus

Spielzeit

44:57 min

Tracklist

01 Slow New Year
02 Duelling Flutters
03 Maria
04 Rosa Canina
05 Day Three
06 Clouding Clouds
07 First Sound
08 Circular
09 Georgia

Line Up

Sarah Neufeld - Violine, Gesang
Richard Reed Parry - Doppelbass, Gitarre, Drum Machine, Perkussion, Gesang
Rebecca Foon - Cello, Gesang

zusätzliche Musiker:
Maria
Shahzad Ismaily - Perkussion

Day Three
Andrew Barr - Schlagzeug

Bewertung

1